Von Postkutschen und Vagabunden: Die wundersame Reise des waghalsigen Fridolin

Es begab sich eines frühen Morgens am dritten Decemberus des Jahres 1818 nach Christus, da sich die Hofmusikantin Georgina in den Gemächern ihres, sich in Rixdorf niedergelassenen Bruders, auffand und ob der vorangeschrittenen Zeit hastig nach ihrem in gold gefassten Schlüssel suchte. In irriger Annahme jenen aufgefunden zu haben, verpackte sie das gußeiserne Schmuckstück in ihrer Reiseapotheke. Im letzten Moment sprang sie auf die Kutsche auf, die sie in zwei Tagen in das Leipzigsche Heimatfürstentum brachte. Dort angekommen erwartete sie bereits ein Eilbote, der ihr verkündete, sie habe den falschen Schlüssel mitgenommen. Der verehrte Bruder stünde daher Nacht für Nacht ohne Schlüssel vor seinen Gemächern und würde seinen teuren Mitwohnenden die Nacht zum Tage machen. In Ermangelung einer angemessenen Bezahlung in Dukaten oder Goldstücken verweigerte der Botschaft-bringende Jüngling die Mitnahme des falschen Schlüssels in die preussische Hauptstadt. Georgina machte daher sogleich dem ihr bekannten und einen Gefallen schuldenden Postkutscher Fridolin ihre Aufwartung und übergab dem gleichen den gußeisernen Pfortensprengsatz. Fridolin, der sich aufgrund eines zur äußersten Pünktlichkeit mahnenden Vorgesetzten, gelobte den Schlüssel innerhalb zweier Tage und einer Nacht zurück nach Berlin zu bringen, verständigte sich auf eine zurückhaltende Bezahlung. Georgina erbrachte ihren Obolus und übergab dem leutseligen Fridolin den Schlüssel, verbunden mit einem kurzen Gruß an den in Rixdorf residierenden Bruder. Noch am selben Nachmittag spannte Fridolin sein treustes und bestes Roßgespann auf und machte sich in der aufziehenden Dämmerung auf den Weg nach Preußen. Nach zwei mühseligen Tagen und Nächten erreichte der Jüngling, der Erschöpfung nahe, die Rixdorfer Residenz des Kleinfürsten Philippus von und zu Ahorn. Dort angekommen musste der fleissige Fridolin jedoch feststellen, dass der Kleinfürst zu Ahorn nicht zugegen gewesen war. Fridolin steckte das Schlüssel-Bündel zurück in seine lederne Bauchtasche und machte sich vorschriftsgemäß auf den Weg zum Naturalienlager der Domstadt zu Magdeburg. Nach weiteren 36 Stunden der Wind- und Wetter trotzenden Kutschfahrt erreichte Fridolin das Naturalienlager und blies mit letzter Kraft in sein Posthorn und fiel danach in einen langen Schlaf. Nach sieben Tagen und Nächten in einem dämmrigen Erschöpfungszustand schlug der arme Fridolin die Augen auf und tastete panisch nach der ihm anvertrauten Ledertasche mit dem schlüssrigen Inhalt. Hinfort war sie. Wie vom Schlammboden verschluckt. Fridolin grämte sich und richtete sich im von Stroh gefütterten Bett auf. Er blickte sich um und sah die Siechenden und Wahnsinnigen um sich herum. An diesem Vormittag beschloss er gegen den ausdrücklichen Rat des Alchemisten von und zu Trotta das Krankenlager zu verlassen und sich auf eigene Faust auf die Suche nach seiner wertvollen Post zu machen. Im Amtsregister des Naturalienlagers fand Fridolin den folgenden Eintrag:

Paket konnte hinsichtlich seines Adressaten und Überbringenden nicht identifiziert werden und wurde sogleich zur weiteren Behandlung in das Naturalienlager des sich im napoleonischen Königreich Westphalen befindlichen freien Kurstadt Paderborn überstellt.

Es wäre angesichts des unwahrscheinlichen Pechs ein leichtes gewesen, der Verzweiflung und des Wahnsinns anheim zu fallen, doch Fridolin verzagte nicht. Gemäß seines allen Schwierigkeiten trotzenden Gemüts, erstand der tüchtige Jüngling auf dem Wochenmarkt ein riesenhaftes Stück Speck und einen beträchtlichen Brotlaib, füllte sein Wasserhorn auf, ließ seine treuen Mähren sich am Bächlein gütlich tun und machte sich dann sogleich auf den Weg nach Paderborn. Exakt 33 Stunden später erreichte der unerschrockene Chevalier die vom französischen Kaiser besetzte Pfaffenstadt. Auf den Straßen herrschte reges Treiben, denn auch das christliche Wiegenfest näherte sich mit großen Schritten und die Bewohner dieser zutiefst gottesfürchtigen Stadt bereiteten sich mit allerhand Nippes und geschenklichen Darbietungen auf das christliche Opferfest vor. Eisiger Wind pfiff durch die verwinkelten Gassen, als Fridolin die Tür zum Naturalienlagers aufstieß. In diesem Moment stürzte der stadtbekannte Räuber und mäßig begabte Troubadeur Friedbert zu Hummpadingel aus den Pforten. Unter seinem wollenen Umhang blitzte das Paket der Hofmusikantin Georgina zu Leipzig hervor. In Anwesenheit eines äußerst wachen Geistes nahm Fridolin die Verfolgung des Missetäters auf. Der delinquente Friedbert, aufgrund eines Klumpfußes mit einigem Nachteil ausgestattet, konnte vom behänden Fridolin bereits an der nächsten Kreuzung gestellt werden. Der Schuft warf sich in den Schnee und bettelte Fridolin erbarmungswürdig an, Gnade vor Recht walten zu lassen. Der goldherzige Fridolin entsprach der Bitte des armen Teufels zugleich und schnitt ihm zur Erinnerung an seine Missetat lediglich ein Ohrläppchen ab, wofür sich Friedbert untertänigst bedankte.

Nach einer weiteren Nacht in den Armen der Dirne Hildegard, die ihm auf seinen Reisen stets eine reinliche, wie gastfreundliche Obhut bot, machte sich der Fridolin erneut auf, um sein Werk zu vollenden. Der bereits letzte Tag des Herrn vor dem christlichen Wiegenfest bereitete dem zu allen Taten entschlossene Fridolin jedoch allerhand Kummer. Die Wege außerhalb der napoleonischen Kaiserstadt vereisten zusehends, was den mannhaften Fridolin jedoch nicht davon abhielt seinem Rossgespann den Weg in die preussische Hauptstadt zu weisen. Sieben Tage und sieben Nächte verbrachte der Postkutscher auf knirschendem Eis und festgefrorener Erde, bis er endlich, noch in weiter Ferne die eisernen Tore, des vom Russen besetzten Spandau blitzen sehen konnte. Das Weihnachtsfest lag zu diesem Zeitpunkt bereits einige Erdumdrehungen zurück und so vernahm der verwegene Fridolin bereits die Übungen zum großen Feuerwerk der Jahreswende, die einige Jünglinge auf den erdenen Straßen Spandaus vornahmen.

Fridolin, dieser heldenhaften Gestalt der Völkerfreundschaft, wurde alsbald er die Stadtmauern überquerte, bereits von einer aufgepeitschten Menschenmenge in überschwänglichster Facon aufgenommen. Selbst in der, von der zaristischen Ordnungsmacht kontrollierten Spandauer Enklave, verbreitete sich bereits die Kunde Fridolins Martyriums, das er im edlen Sinne einer puristischen Arbeitsmoral auf sich nahm. Über Brieftauben und Eilboten tauschten sich die Menschen über die immer bizarrer werdende Reise des vorindustriellen Oddyseus aus. Im Übermut seiner fanatisierten Gefolgschaft trug man den heldenhaften Fridolin durch die Gassen Spandaus, zum russisch-zaristischen Statthalters Ladislaus, dem XVII. Dieser, tief bewegt vom Überschwang der Untertanen und der Geschichte des verwegenen Fridolin, lud den selbigen zu einem ausschweifenden Budenzauber über den Jahreswechsel ein.

In dem über die Landesgrenzen bekannten Etablissments Spandorf warteten Wein, Weib und Gesang auf den ausgemergelten Fridolin, der sich an allem ihm Feilgebotenen gütlich tat. In den dunklen Ecken warteten die Mätressen des Statthalters, während der Wein in den Hallen der Festsitzung in Strömen floß. Nach der dritten Nacht entschied sich der inzwischen dem Katzenjammer verfallenen Fridolin nach seinen Pferden und der an ihnen befestigten Schlüsselfracht zu sehen. Schockschwerenot! Auf dem angestammten Platz im Stall des Ladislaus dem XVII. fand er seine Rosse nicht wieder. Lediglich eine auf Pergament gefasste, an Fridolin adressierte und mit dem amtlichen Postsiegel versehene Mitteilungsrolle befand sich im leeren Stall:

Eure vagabundierende Teurigkeit!

Mit einigem Unbehagen habe ich von eurem Martyrium erfahren. Es muss ihnen ein äußerst aufwendiges Unterfangen gewesen sein, meine heikle Fracht dem geliebten Bruder von und zu Ahorn zu übermitteln. Nichtsdestotrotz musste ich nach Wochen der Unwissenheit an dieser Stelle selbst die Tatkraft finden, um das Elend des schlüssellosen Philippus zu beenden. Ich machte mich daher in den frühen Morgenstunden des ersten Tages des neuen Jahres auf, um eure Herrlichkeit aufzufinden. Da mir als ordinäres Weib, der Zutritt zum Etablissement „Spandorf“ verweigert wurde, kam ich nicht umhin, selbst für die Zustellung der Fracht zu sorgen. Ich lieh mir hierfür ihre Rossgespann, nebst Kutsche und machte mich auf den Weg ins kurfürstliche Rixdorf.

Hochachtungsvoll

Georgina von und zu Ahorn

Der friedliebende Fridolin war außer sich. Wie konnte er seine ihm so teure Fracht abhanden kommen? Wie konnte er sich vergnügen, während das ihm anvertraute Bündel unbesehen im Stall der Pferde des Ladislaus hing? Wie konnte ihn der süße Wein und das liebliche Weibsvolk von seiner ureigenen Berufung abhalten? Der Verzweiflung nahe sah er nur noch einen Ausweg: Just neben dem ordinären Stall eigener und fremder Gäule verminderter Güte, hatte der zaristische Statthalter Ladislaus, der XVII. ein gut abgeschlossenes Refugium für die Prachtrosse kasachischer Herkunft geschaffen. Nur zu besonderen Anlässen wurden jene Tiere aus ihren Bestallungen geholt und einer erstaunten Öffentlichkeit kredenzt. Die Rosse übertrafen ihre durchschnittlichen Artgenossen um das eineinhalbfache und konnten nur durch den ersten Stock des Hauses des Pferdepflegers bestiegen werden. Selbiges befahl sich Fridolin selbst und fand sich auf dem muskulösen Rücken des kasachischen Wildfangs wieder. Er trat in die Hufen, gab dem Ross Sporen und fegte in eiligem Tempo gen Rixdorf, um seine teure Freundin Georgina noch abzufangen und sich selbst die Schmach des Scheiterns zu ersparen.

Auf dem kaiserlichen Prachtboulevard Unter den Linden flanierten bereits wieder die ersten Hochwohlgeborenen und ergötzten sich an den ersten Sonnenstrahlen des neuen Jahres 1809. Die Kutschen klackerten auf dem Kopfsteinpflaster und das goldbeschlagene Prachtross des Ladislaus, des XVII zog galoppierenden Schrittes allen anderen Gefährten davon. Fridolin fröstelte. Der ihm entgegengeschlagene Luftwiderstand wuchs im enormen Tempo des Kasachen unter ihm zu einem eisigen Wind heran. Nach seinen groben Überschlagungen musste Fridolin die patente Georgina in wenigen Minuten eingeholt haben. Und tatsächlich: nach einer scharfen Rechtskurve in die Dammstraße, die später Friedrichstraße heißen sollte, erblickte er die eigene Kutsche mit der waghalsigen Georgina auf dem Hochsitz. Welch Freude, welch Überraschung vermischt mit einigem Gram. Georgina und Fridolin begrüßten sich herzlich mit überschwänglichen, jedoch rein platonischen Küssen. Nach dem Austausch einiger Nettigkeiten, gestand Fridolin seine Seelenpein: Er müsse das Werk selbst vollenden, die Schmach tilgen und eigenhändigst den Schlüssel übergeben. Georgina, die die Aufrichtigkeit im Antlitz ihres teuren Freundes vernahm, übergab selbigen die heikle Fracht und bestieg ihrerseits das Ladislaussche Prachtross. Fridolin, in freudiger Erregung wiedervereint mit Fracht und Gespann geleitete seine Pferdchen durch das bald schon aufblühende Berlin, das an diesem sonnigen Wintertag, ganz gülden funkelte. Im Rixdorfer Sündenpfuhl angekommen, klopfte Fridolin, wie er es immer zu pflegen tat, dreimal an der Tür, vernahm ein Geräusch im Inneren der Gemächer und seufzte erleichtert, als ihm Philippus von und zu Ahorn das Tor öffnete. Kaum vernehmbar lächelnd nahm von und zu Ahorn nach 36 Tagen der Wartens und Bangens das Schlüsselbündel entgegen, bedankte sich beim entzückten Fridolin mit knappen Worten und verschloß die Tür. Draussen vor der Tür, schnaubten unterdessen Fridolins Gäule auf und warteten treu ergeben, bereits auf ihren Besitzer und seine kommenden Abenteuer.

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